Städte stehen vor vielen Herausforderungen - Stadtflucht gehört jedoch nicht dazu


27 / 04 / 23 - 3 minute read

In der COVID-19-Pandemie zog es Stadtbewohner, die der hohen Lebenshaltungskosten und Belastungen des Stadtlebens überdrüssig waren, zunehmend in Vororte, Satellitenstädte oder ganz aufs Land mit ruhigeren, gesünderen Lebensbedingungen, was eine regelrechte Stadtflucht auslöste.

Auf einmal träumten alle vom Einfamilienhaus mit Garten, groß genug für den im Lockdown angeschafften Familienhund und ein kleines Beet für Biogemüse – ein ruhiges Viertel, sichere Straßen und gute Schulen in Reichweite inklusive. Wohnungen oder Mehrparteienhäuser kamen aus der Mode, Balkone wurden zu eng, die Weiten eigener Außenflächen ein Muss. Die Stadt schien dem Untergang geweiht.

Soweit zumindest das verbreitete Mantra. Mit der Realität hatte es jedoch nichts zu tun. Zwar stieg die Nachfrage nach größeren Häusern außerhalb der Stadtzentren – tüchtig angefacht von geschäftswitternden Immobilienmaklern – tatsächlich an, doch bele

Dr Marcus Cieleback, PATRIZIA Chief Urban Economist

Die Realität

Fakt ist, dass frisch verheiratete Paare und junge Familien schon seit Langem tendenziell aus der Stadt in die Vororte oder aufs Land abwandern. Wie viele andere hat COVID-19 auch diesen Trend beschleunigt. Doch für die Abwandernden zogen schon immer jüngere Generationen und Einwanderer ebenso wie mittlerweile zunehmend Senioren und Menschen nach, die sich verkleinern wollen und sich nach dem Kulturleben pulsierender Städte sehnen.

Die Pandemie hat die fortschreitende Urbanisierung nur unterbrochen, jedoch nicht beendet. Lag der Anteil der im Stadtgebiet lebenden Bevölkerung in Europa 1950 noch bei 51,5 %, sind es heute bereits 75 % und bis 2050 Schätzungen zufolge 84 %. Derzeit leben 56 % der 8 Milliarden Menschen weltweit in Städten. 2050 dürften es bei einer Weltbevölkerung von 9,9 Milliarden Menschen 70 % sein.

Auch wenn die Pandemie die Verstädterung etwas verlangsamt zu haben scheint, bleibt die Stadt – wenig überraschend – attraktiv und wächst weiter. Viele Metropolen sind wahre Wirtschaftsmächte, die hinsichtlich Bruttoinlandsprodukt, Produktivität und Bevölkerungszahl so manchen Staat in den Schatten stellen. Hieraus ergeben sich eine günstige Arbeitsmarktsituation, bessere Bildungsmöglichkeiten und mehr kulturelle und soziale Angebote, was junge, kluge und ehrgeizige Köpfe anzieht.

In ihrem jüngsten European Residential Markets Report zeigt PATRIZIA auf, dass die zunehmende Urbanisierung die Wohnungsnachfrage in wirtschaftlich florierenden europäischen Großstädten trotz des russischen Kriegs in der Ukraine sowie steigender Inflationsraten und Zinsen nach wie vor anheizt. Entsprechend ist der Wohnungsbau, insbesondere eine dichtere Besiedlung mit Mehrparteienhäusern, ein wichtiges Thema.

Mehrfamilienwohnhäuser

Während diese in Ländern wie Spanien, Deutschland, der Schweiz und den Balkanstaaten der vorherrschende Gebäudetyp sind, liegt ihr Anteil etwa in Großbritannien, Irland und den Niederlanden in Großstädten – trotz ähnlicher Urbanisierungssituation – bei unter 20 %.

Einfamilienhäuser bestimmen so nicht nur die Architektur ländlicher Gegenden, sondern auch das Stadtbild, wo die Wohnungsnot am größten ist – mit massiven Konsequenzen für institutionelle Anleger: Das Angebot an Mehrparteienhäusern als Anlageprodukt und die Chancen auf deren Ausbau auf Schlüsselmärkten sind dadurch begrenzt, was wiederum den Nachfrageüberhang verstärkt.

Die Nachfrage ist generationsübergreifend

Der Bau von Mehrparteienhäusern durch institutionelle Anleger wird künftig für die Entschärfung der Situation entscheidend sein. Die hohe Nachfrage entspringt dabei allen Generationen: Für junge Leute bleibt das Stadtleben attraktiv, wobei Millennials und nachfolgende Jahrgänge Mietverhältnissen deutlich offener gegenüberstehen als ihre Eltern. Insbesondere, wenn sie ihren Berufsweg eingeschlagen haben, ziehen sie Mietwohnungen Eigentum vor, um für neue Jobchancen oder aus anderen Gründen flexibel umziehen zu können.

Zudem stehen Hochzeit und Familiengründung – die klassischen Auslöser für die Suche nach einem Eigenheim – bei Millennials später an, wodurch sie es auch weniger eilig haben, in die eigenen vier Wände zu ziehen. Darüber hinaus rückt Wohneigentum für Bewohner von Mehrparteienhäusern in finanzieller Hinsicht zunehmend in unerreichbare Ferne. Denn auch wenn die Zinsen langfristig gesehen trotz der starken Anhebung im Frühjahr 2022 relativ niedrig geblieben sind, hat sich Wohneigentum in den letzten Jahren aufgrund der ständig steigenden Immobilienpreise stark verteuert.

Tatsächlich wirkt das Stadtleben mit seiner gut entwickelten sozialen Infrastruktur vor allem auf die wohlhabende ältere Generation zunehmend attraktiv, wodurch ihr Anteil im Stadtgebiet wächst.

Für viele potenzielle Erstkäufer wird die Lage durch die nun anziehenden Zinssätze umso problematischer.

Neben jungen Menschen dürften aber auch Senioren Mehrparteienhäuser stärker nachfragen. Hochrechnungen zufolge wird die Lebenserwartung in der alternden europäischen Gesellschaft 2070 bei 88,2 Jahren liegen, während der Anteil der über 65-Jährigen gegenüber der arbeitenden Bevölkerung von 19 % auf 29 % steigen wird. Über 80-Jährige machen dann 13 % statt heute 5 % aus. Da nun immer mehr vermögende Babyboomer in Rente gehen und sich „etwas Kleineres“ wünschen, suchen Senioren vermehrt nach Wohnungen sowie neuen Formen des betreuten Wohnens in Großstädten. Die erstarkende Nachfrage seitens älterer Generationen dürfte ein Umsteuern hin zu neuen Produkten mit größeren Wohneinheiten und Annehmlichkeiten bewirken, die ehemalige Hausbesitzer ansprechen.

Tatsächlich wirkt das Stadtleben mit seiner gut entwickelten sozialen Infrastruktur vor allem auf die wohlhabende ältere Generation zunehmend attraktiv, wodurch ihr Anteil im Stadtgebiet wächst. Dieser Wandel vollzieht sich europaweit unterschiedlich schnell: Während der Anteil älterer Menschen in italienischen Städten bereits relativ hoch ist, liegt er in britischen Städten noch auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Doch dies ändert sich nun, wobei Spitzenreiter und Schlusslichter im demografische Verteilungsranking europäischer Städte in den letzten Jahren deutlich enger zusammengerückt sind. 

Damit sehen sich Städte neuem Druck ausgesetzt, auf den sie bei Gesundheitssystem, öffentlicher Infrastruktur, Wohnraum und Sozialpolitik reagieren müssen. Darüber hinaus steigt der Bedarf an städtischen, wirklich nachhaltigen Mischvierteln mit verschiedensten Mehrparteienhauskonzepten, die alle Generationen – Senioren, Familien und junge Menschen – ansprechen und mit entsprechender sozialer Infrastruktur unterstützen.