Vom Grenzstreifen zum Wohngebiet

Die Berliner Mauer – das Sinnbild für Eingeschlossensein, bittere Abgeschiedenheit und Isolation. Die Mauer trennte Berlin von Nord bis Süd, oft mitten auf einer Straße, in die zwei Hälften Ost und West, die gegensätzlicher nicht hätten sein können.

Von einem Tag auf den anderen änderte sich ab 13. August 1961, 1 Uhr morgens, das Alltagsleben der Stadt Berlin und ihrer Bewohner. Zehntausende Familien wurden durch den Mauerbau brutal auseinandergerissen, Freundschaften zerstört und Nachbarschaften beendet. 28 Jahre, zwei Monate und 28 Tage trennte die Mauer Berlin in zwei gegensätzliche internationale Hemisphären, ein betongewordener Ausdruck des Kalten Krieges weltweit. Bis zum 9. November 1989. Mindestens 138 Menschen, die die Berliner Mauer in dieser Zeit versuchten zu überwinden, kamen ums Leben.

Die Straße als Grenze

Die Bernauer Straße an der Grenze zwischen den Berliner Stadtbezirken Wedding, Prenzlauer Berg  und Mitte, genau zwischen dem französischen und dem sowjetischen Sektor, war einer der Brennpunkte der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte in Berlin. Den Bau der Mauer mit seinen Folgen erlebten die Menschen wie hier geradezu dramatisch: In der Bernauer Straße verlief die Grenze entlang der Häuserfront der auf Ost-Berliner Gebiet stehenden Wohnhäuser. Wenige Wochen nach dem Mauerbau wurden die Häuser zwangsgeräumt, die Anwohner zwangsumgesiedelt, Fenster und Türen vermauert. Später wurden die Häuser abgerissen oder gesprengt und auf der so geschaffenen Ödnis errichtete das DDR-Regime die Grenzanlagen mit allen Brutalitäten des Grenzsystems, das sogar vor den Friedhofsanlagen der evangelischen Sophiengemeinde kein Halt machte.

Unendlich lang erschien der 40 Meter breite Grenzstreifen in der Bernauer Straße. Unendlich  hoch sein 3,50 Meter hohen, mit Stacheldraht bewehrten Betonmauern, die mit Sperranlagen, Postenwegen, Kontrolltürmen, Grenzsignalzaun und Hinterlandmauer versehen waren. Und  unendlich einschneidend waren die Auswirkungen all dessen auf das Wohngebiet, sowohl auf der Ost- als auch der Westseite, also südlich und nördlich der Bernauer Straße. Schmerz und Leid hätten für die Eigentümer und Anwohner im Osten, im sowjetischen Sektor, nicht größer sein können – ihres Besitzes enteignet, aus Häusern und Wohnungen verjagt, ohne Hoffnung, einmal „nach Hause“ zurückkehren zu können: leider bis heute. Denn nach dem Mauerfall und der Wende in den Jahren 1989/1990 sind die Grundstücke, damals in DDR-Besitz, an die Bundesrepublik Deutschland gefallen. Für 750 dieser Grundstücke verweigerte der Bund die Restitution an die Alteigentümer. Im November 2013 spricht der Europäische Gerichtshof den verzweifelten Antragstellern jegliche Ansprüche auf ihr Hab und Gut endgültig ab. Rückkauf zu 20 Prozent des Verkehrswertes ja, Restitution nein, nur Anspruch auf Auszahlung von 75 Prozent des Verkehrswertes. Widerstrebend kaufte so mancher Zwangsenteigneter sein Eigentum im Gedenken an die Angehörigen zurück. Ein Zugeständnis, im Gedenken an die Angehörigen.

Mauer unterbindet Handel und Gewerbe

Die Mauer beendete aber auch schlagartig das pulsierende Leben auf der nördlichen Seite der Bernauer Straße im französischen Sektor. Wichtige Verkehrsadern waren gekappt, ganz Wedding, eben noch lebendiger Kiez, fand sich urplötzlich in einer Sackgasse wieder, ein Durchkommen nach Prenzlauer Berg oder Mitte wie auch immer schier unmöglich – eingemauert eben. Handel und Gewerbe blieben die Kunden aus, Industrieunternehmen wie AEG, Siemens, Schwarzkopf oder Handelskonzerne wie Hertie u.a. gaben in den folgenden Jahren ihre Standorte auf und wanderten nach Westdeutschland ab.

Und die Menschen? Auf der Westseite der Bernauer Straße entstand noch vor dem Mauerbau bis zur Mitte der 1950er Jahre die Ernst-Reuter-Siedlung , ein völlig neues Stadtviertel, im Rahmen von Wiederaufbau, Systemkonkurrenz, aber auch dem unbeirrten Glauben an die „Wirklichkeit geteilte Stadt“ . Die Siedlung gehört zusammen mit dem Hansaviertel in Tiergarten zu den Vorzeigeprojekten West-Berlins. Beide sollten die Gegenmodelle zum Ost-Berliner Aufbauprogramm an der Stalinallee bilden.

Problemfall Wedding

Nach dem Mauerbau aber dann das: Handel, Gewerbe, Industrie verließen das Viertel und  es war absehbar, dass auch die Menschen irgendwann folgen würden. Es drohte wieder das Gespenst des armen, alten Weddings der 1920er Jahre. Kurzerhand erklärte der West-Berliner Senat das eingeschlossene Karree von der Bernauer Straße bis zur S-Bahn zum Sanierungsgebiet – das seinerzeit größte in ganz Europa. Von 1963 bis 1966 überlegten, planten und diskutierten dann Wissenschaftler von elf deutschen Technischen Hochschulen und Universitäten, wie speziell der Wedding zu sanieren sei. 1966 schließlich wurde das heutige Erscheinungsbild nördlich der Bernauer Straße festgeschrieben. In der Praxis bedeutete das den Abriss von bis zu 95 Prozent der Gebäude. Die Neubebauung folgte den  Prinzipien Auflockerung, Entkernung, Freiflächen und Begrünung. Was seinerseits zur Folge hatte, dass die Bevölkerungsdichte sinken musste. Viele Bewohner verließen daraufhin ihre vertraute Gegend in Richtung Norden, in das neue Märkische Viertel. 

Intakt aber wenig homogen

Heute ist der Wedding und mit ihm das Gesundbrunnen-Viertel als ein in wesentlichen Teilen intakter Kiez zu erleben, dessen Homogenität jedoch besonders durch das wieder vereinigte Berlin immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Beide Stadtteile bildeten bis zur Verwaltungsreform 2001 eigentlich eine untrennbare Einheit. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung im Wedding liegt bei 30 Prozent, einen Migrationshintergrund haben 48,3 Prozent. Die meisten der Migranten kommen aus der Türkei, der ehemaligen Sowjetunion, Polen und den Balkanstaaten.

Im Jahr 1990 wurde die verhasste Mauer an der Bernauer Straße in nur knapp vier Monaten beseitigt. Erst ab 2005 hatte der Senat sich zu einem Bebauungsplan für das Areal durchgerungen. Insbesondere das Freihalten der Fläche für die Gedenkstätte Berliner Mauer wurde erst 2010 auf immensen öffentlichen Druck  - der 50. Jahrestag des Mauerbaus stand bevor - festgelegt, ebenso die Ergänzung gedenkstättenverträglicher Nutzungen. Für den Innenhofbereich wurden nur zwei Neubauflächen für Wohnnutzungen definiert. Wieder war die Grundstücksfrage bestimmend: „Will der Bund ein Grundstück für dringend eigene öffentliche Zwecke verwenden“, kann der Rückverkauf an die Alteigentümer von Grundstücken an der Bernauer Straße abgelehnt werden. So das Mauergesetz. Und genau das ist geschehen.

Gedenkstätte ja, Wohnen nein?

Fast schien es, als ob auch weiterhin jedes lebendige öffentliche Leben aus dem ehemaligen Grenzland verbannt und die Tristesse wieder einkehren würde. Die Gedenkstätte Berliner Mauer sollte Vorrang haben mit der Maßgabe, dass auf den von den Grenzanlagen befreiten Grundstücken keine Häuser errichtet werden dürfen. So wurde von einer „behutsamen baulichen Ergänzung in den angrenzenden Bereichen“ gesprochen, eine „Erinnerungslandschaft“ sollte entstehen, von der die Eigentümer ausgeschlossen wurden, interessiert war der Senat nur an dem Land. Die Stiftung Berliner Mauer kaufte für 12 Millionen Euro, unterstützt mit öffentlichem und privatem Geld, dutzende dieser Flächen auf, damit sie öffentlich zugänglich blieben und Teil der Mauerausstellung werden könnten. Nur drei Alteigentümer verweigerten dies.

An der Bernauer Straße wird wieder gewohnt

Dass an der Bernauer Straße auf der östlichen Seite inzwischen wieder Wohnhäuser stehen, grenzt fast an ein Wunder. Zusammen mit dem Neubau der Kapelle der Versöhnungskirchengemeinde – die ehemalige Kirche wurde noch im Januar 1985 von der DDR gesprengt – ist mit den neuen Häusern und sanierten Gründerzeitbauten im sogenannten Ostseeviertel bis an die Schönhauser Allee nahezu ein städtisches „Idyll“ entstanden. Ein Glücksfall echter Glücksfall für die Bernauer Straße ist das Projekt im rückwärtigen Bereich des Grundstückes Strelitzer Straße 53/Bernauer Straße 5-8, wo sich vormals das Hundeauslaufgebiet der Grenzsicherungstruppen befand. Der Bauherr bewies Mut: Für dieses Areal südlich des Postenwegs wurde ein Konzept für 16 Reihenhäusern auf Erbbaurechtsbasis unter engen gestalterischen Rahmenbedingungen entwickelt. Dieses Bauprojekt in direkter Nachbarschaft zur Gedenkstätte und der Kapelle der Versöhnung nimmt Rücksicht auf die Wegeführung entlang des Postenwegs und die gestalterische Prägung des Ortes. Es wurde im Jahr 2009 mit dem Architekturpreis Berlin ausgezeichnet.

In den wunderschön und zumeist teuer restaurierten Häusern ist meist eine betuchte Klientel zu Hause, die von Mauerbau und DDR nur wenig weiß und auch sonst ganz anders ist als die Bewohner der „anderen“ Bernauer Straßenseite. Hier im Wedding und Gesundbrunnen die gering verdienenden Migranten, da im Osten die zugezogenen studierten Akademiker aus Westdeutschland oder EU-Europa; die Mauer als Schicksal einer Straße, noch immer. Und: Die Alteingesessenen hie und da sagen immer noch „drüben“, wenn sie die andere Seite der Straße meinen.

Dennoch: Die Bernauer Straße hat wieder ein neues, völlig anderes Leben, auf beiden Seiten. Auf der Grenz-Erde im Osten wächst seit 2010 neben der Kapelle der Versöhnung symbolhaft ein Roggenfeld. Saatgut wird nach der Ernte im September in andere Länder gesendet. Für ein Friedensbrot.