
Der Fall der Mächtigen - die Zukunft des Einzelhandels
22 / 06 / 21 - 4 minute read
Jahrzehntelang war John Lewis das Kaufhaus der Wahl für den anspruchsvollen britischen Mittelklasse-Shopper. Der Start der Weihnachtsaktionen des Einzelhandelsriesen war für viele der Beginn der Weihnachtszeit schlechthin. Auch bei anderen festlichen Anlässen wie Hochzeiten standen Toaster, Wasserkocher und Besteck von John Lewis seit jeher ganz oben auf der Einkaufsliste. Bei vielen Konsumenten waren die meisten Samstagnachmittage im Kalender zudem fix als Einkaufsevent reserviert.
Und heute? Seit Beginn der Corona-Pandemie verlor das britische Handelsunternehmen etwa ein Drittel seines Umsatzes. Tausende von Arbeitsplätzen waren gefährdet. John Lewis ist beileibe nicht der einzige Einzelhändler, den die globale Pandemie hart getroffen hat. Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelhandel waren bald überall spürbar und ließen keinen Stein auf dem anderen. Vor allem der Textileinzelhandel und große Kaufhäuser meldeten in Großbritannien eine Insolvenz nach der anderen.
Auch nach den Lockdownlockerungen und der Wiedereröffnung zahlreicher Geschäfte ist die Unsicherheit im gesamten Einzelhandel weiterhin spürbar. Werden die Kunden wieder zurückkommen? Lassen sich Einkaufserlebnisse im Handel bald auch wieder an den Umsätzen ablesen? Oder hat der Verbraucher in Corona-Zeiten sein Kaufverhalten geändert?
Beschleunigung bestehender Trends im Einzelhandel
Keine Frage: Die Pandemie hat den Einzelhandel kräftig durchgeschüttelt. Wichtig jedoch ist, dass wir hier allgemeine Trends im Einzelhandel sehen, die sich bereits seit Jahren am Horizont abgezeichnet haben. Trends, die durch die Pandemie lediglich beschleunigt wurden.
Wir haben es seit längerer Zeit mit einer neuen Generation digitaler Käufer zu tun, für die inzwischen das Einkaufen per Mausklick bei Amazon alltäglich geworden ist und für die Touchscreen kein Fremdwort ist, das man Lexikon nachschlagen muss. Ja, die Stunde der Wahrheit ist nun auch für die Einzelhandelsbranche gekommen – und die Pandemie hat diese einschneidenden Veränderungen lediglich ans Tageslicht gebracht.
„Corona wurde zu einem Game Changer in Sachen Strukturwandel und führt zu einer nachhaltigen Transformation – und zwar im Handel selbst sowie bei Handelsimmobilien“, sagt Daniel Herrmann, Head of Fund Management Retail bei PATRIZIA, voraus. „Man kann davon ausgehen, dass der Lockdown in einigen Teilbereichen des Einzelhandels nachhaltige Auswirkungen haben wird. Onlineshopping wird sich immer mehr durchsetzen. Es wird keine Rückkehr zur „guten alten Zeit“ vor der Krise geben.“
Derzeit ist im Einzelhandel eine Erholung von der Krise erkennbar. Jetzt geht es darum, die Rentabilität wieder zu stabilisieren. Im Vordergrund steht hierbei die Frage, wie viele stationäre Geschäfte eigentlich noch benötigt werden – in Zeiten, in denen Konsumententrends wie Online Handel, Convenience- und Serviceangebote an Fahrt aufgenommen haben.
Unterschiedliche Aussichten für unterschiedliche Segmente
Traditionell haben sich die verschiedenen Einzelhandelssegmente weitgehend parallel entwickelt. Das Interesse an High Street-Objekten war dabei bei Investoren am ausgeprägtesten. Sektoren wie Lebensmitteleinzelhandel und Convenience-Einzelhandel landeten am unteren Ende der Interessenskala. Die Corona-Pandemie hat allerdings diese Rangfolge auf den Kopf gestellt. Derzeit sind es überwiegend Lebensmittel-, Luxus-, Discount-, DIY- und Convenience-Einzelhändler, die sich über stabile Mieten und Renditen freuen. Kein Wunder also, dass zahlreiche Investoren ihre Portfolios mittlerweile von High-Street-Objekten und Shopping Centern auf diese Sektoren umgeschichtet haben. Eine Entwicklung, die naturgemäß an einigen Ladenzeilen und Shoppingzentren nicht spurlos vorübergehen wird und laut Herrmann deutlich niedrigere Mietpreise, Abwertungen und sinkende Investorennachfrage bedeuten könnte.
Zumindest für das mittelpreisige Modesegment, das unter dem anhaltenden Aufschwung des E-Commerce am stärksten leidet, sieht die Lage düster aus. In Europa sinken die Mieten aufgrund eines Angebotsüberhangs bereits und am Investorenhimmel ziehen erste dunkle Wolken auf, wie Herrmann erläutert.
Einige europäische Länder werden sich schneller erholen als andere. Besonders die mit knappen Kassen kämpfenden südeuropäischen Länder und vor allem deren Non-Food-Einzelhandel werden Zeit brauchen bis sie sich erholen. Ihre reicheren nördlichen Nachbarn werden die durch die Erholung entstehenden Einnahmen sehr wahrscheinlich wieder in ihre Ladenlokale investieren.
Anpassung an die neue Normalität
Unabhängig von der jeweiligen Handelsbranche oder dem Standort ist eine überzeugende Online-Präsenz Voraussetzung zum Überleben. „Die besten Lieferanten sind in der Lage, direkte Endkundenbeziehungen aufzubauen. In vielen Fällen verliert der Einzelhandel dadurch seine Gatekeeper-Funktion“, heißt es in einer Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman mit dem Titel„Die Zukunft des Einzelhandels“.
Hybrid oder – anders gesagt - Omni-Channel, also die Verknüpfung physischer Geschäfte mit E-Commerce, ist eine der Lösungsmöglichkeiten. Bereits
95 % des gesamten E-Commerce laufen über stationäre Retailer.
Einige größere Einzelhändler verringern zwar die Anzahl ihrer Filialen. Auf der anderen Seite stärken sie jedoch ihre Marktpräsenz über sog. Flagshipstores. Durch innovative Konzepte wie Click & Collect, BOPIS (online einkaufen, im Laden abholen) und ein kluges Retourenmanagement versuchen zahlreiche Händler, Kunden zurückzugewinnen. Auch neue Lifestyle- und Convenience-Angebote wie „bagless shopping“ und Store-to-door-Services sollen den Kundenfang wieder erfolgreicher machen.
Corona wurde zu einem Game Changer in Sachen Strukturwandel und führt zu einer nachhaltigen Transformation – und zwar im Handel selbst sowie bei Handelsimmobilien
Auch der neue Trend zu „Co-Retail“-Flächen besitzt vielversprechendes Potential. Hierbei teilen sich Anbieter Verkaufsflächen und kooperieren, um gemeinsam komplementäre Kundensegmente anzusprechen. Daneben geht der Trend weiterhin in Richtung personalisierte Produkte und Services mit dem Ziel, Kundenloyalität aufzubauen, Margen zu steigern und wertvolle Kundendaten zu generieren. Reine Standardprodukte jedenfalls werden weiterhin Marktanteile verlieren.
Auch Einkaufszentren im Speckgürtel größerer Städte könnten zukünftig zu den Gewinnern gehören. Dank ihrer Größe und großzügigen Flächen wirken sie besonders auf Konsumenten anziehend, die nach wie vor größeren Menschenansammlungen vermeiden wollen. Zudem sind sie von ihrer Struktur her ideal für ein kluges Retourenmanagement, großzügige Schaufensterpräsentationen als Informationsquelle für den Online-Einkauf oder Click-and-Collect-Services.
Weitere Informationen finden Sie im PATRIZIA-Marktbericht „The future of retail: 7 distinct trends to watch“.
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