Tiefe Gräben, hohe Erdwälle, Holzpalisaden und dahinter 3.000 Legionäre, ein jeder mit Kurzschwert, Schild und Speer bewaffnet: 15 Jahre vor Christi Geburt ist Augusta Vindelicorum das wichtigste Kastell im Norden des römischen Imperiums. Claudius Drusus, Stiefsohn des Cäsar Augustus, ist mit seinem Heer über den Reschenpass gezogen, um hier, von Lech, Wertach und Singold aus, die Grenzen des Reiches tief nach Germanien hinein zu verschieben.
Ein Jahrhundert später ist aus dem trutzigen Lager ein ruhiger Beamtensitz geworden, Verwaltungsstadt der Provinz Raetien. Bis hinauf zum Rhein und Main reicht nun die Macht der Herrscher aus Rom. Doch dann beginnt das Imperium zu zerfallen. 260 nach Christi rücken die Juthungen heran. Augusta Vindelicorum wird wieder Grenzstadt. Nur mit Mühe kann Marcus Simplicinius Genialis in zweitägiger Schlacht am 24. und 25. Mai des Jahres noch einmal die Alemannen schlagen. Ein vorübergehender Erfolg. In ein paar Jahrzehnten werden sie die Provinz erobern. Was die römischen Bürger in der Stadt an eigenem Grundbesitz, sorgfältig im Katasterwesen des Imperiums protokolliert, erworben und penibel mit Mauern und Zäunen von ihren Nachbarn getrennt haben – sie werden es verlieren.
Doch Grenzen markieren nicht nur die Größe von Staaten und den Besitz von Individuen. Sie bieten auch jenen Schutz, denen es gelingt, sie zu überschreiten. Davon kündet das dreireihige Bogenfeld im Südportal des vom 8. Jahrhundert an errichteten Mariendoms in dieser Stadt, die da bereits den Namen Augsburg trägt. Kleine Figuren unter zierlichen Baldachinen zeigen Szenen aus dem Leben der Gottesmutter. Darunter die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten: Erst als sie die Grenze hinter sich lassen, ist Jesus sicher vor den Häschern des Königs Herodes.
Und: Überwinden Menschen Grenzen im Miteinander, kann dies über Jahrhunderte nachwirken. 1555 wird mit dem Augsburger Religionsfrieden der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in der Stadt beigelegt. Ein Ereignis, das den Augsburgern bis heute mit dem alljährlich am 8. August begangenen Hohen Friedensfest den einzigen, auf ein Stadtgebiet beschränkten zusätzlichen Feiertag in Deutschland gewährt.
Der historische Exkurs am Beispiel der bayerischen Großstadt zeigt vor allem eines: Grenzen sind nicht statisch. An Linien, die heute Völker oder Religionsgruppen trennen, kann es morgen große gemeinsame Marktplätze geben. Philosophen und Dichter haben denn auch Grenzen immer nur als vorübergehendes Phänomen begriffen – und als Herausforderung, diese zu beseitigen. „Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da“, schreibt der Frühromantiker Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, der seine lyrischen Werke unter dem Pseudonym Novalis veröffentlicht.
Hardenberg, 1772 geboren, lebt in einer Zeit, in der Grenzen massiv verschoben werden. Die Französische Revolution beendet den Absolutismus. Der königliche Anspruch, „L'État c'est moi“ – Der Staat bin ich –, gilt in Paris nicht mehr. Zuvor lässt bereits der amerikanische Unabhängigkeitskrieg die Ideale der Freiheit über den Willen eines Monarchen triumphieren. Die Aufklärung mit ihren humanistischen Werten – den Menschenrechten, der religiösen Toleranz und dem Gemeinwohl – läutet das Ende der Feudalstaaten ein.
Die Vernunft als universelle Urteilsinstanz wird zum neuen Maßstab. Grenzen, die Religion und Politik dem menschlichen Wissensdrang gesetzt hatten, verschwinden. Die Naturwissenschaften erblühen. René Descartes hat bereits im frühen 17. Jahrhundert mit seiner Proklamation „cogito ergo sum“ – Ich denke, also bin ich – die Grundlage der Erkenntnistheorie gelegt. Nun nutzen Forscher und Erfinder die neugewonnene Freiheit, um mit Macht Geräte und Arzneien zu entwickeln, die die Barrieren sprengen, die das Leben der Menschen schwer und kurz machen.
Der Amerikaner Eli Whitney baut 1793 die erste Egreniermaschine. Mit ihr können Baumwollfasern nun schnell von den klebrigen Samenkapseln getrennt werden. Die Stoffe aus der Naturfaser, bislang ein Luxusprodukt, werden zur Massenware. Auch einfache Arbeiter und Bauern können sich nun Hosen, Hemden und Jacken aus dem haltbaren Material leisten.
Drei Jahre später präsentiert der englische Mediziner Edward Jenner den ersten Impfstoff gegen Pocken – gewonnen aus einer Kuh. Dem Landarzt ist aufgefallen, dass Melkerinnen, die sich mit Kuhpocken infiziert haben, nicht an den Menschenpocken erkranken. Um seine Theorie zu testen, impft Jenner mehrere Kinder, darunter seinen eigenen elf Monate alten Sohn, mit Kuhpocken und infiziert ihnen sechs Wochen Eiter aus Menschenpocken. Keines der Kinder erkrankt.
Wofür Jenner heute eine Gefängnisstrafe und der lebenslange Entzug der Approbation sicher wären, ist zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches. Angesichts der damaligen hohen Geburtenraten gelten Kinder als ersetzbar. Wer mit dem Stock prügelt, gilt als fürsorglicher Erzieher, der den Nachwuchs angemessen auf die Härten des Lebens vorbereitet.
Heute hingegen ringen Eltern darum, ob und wann sie ihren Sprösslingen zu deren eigenem Wohl Grenzen setzen sollten. Welche Verbote sind notwendig, welche könnten schädigen? Sollte die Hand eines Kindes über die glühende Herdplatte geführt werden, um es die Hitze spüren zu lassen? Wie heiß diese Debatten brennen, zeigt die Internetsuchmaschine Google. Sie liefert auf den Satz „Kindern Grenzen setzen“ 1,43 Millionen Treffer.
Werner Stangl, emeritierter Professor der Universität Linz und eine der anerkannten Größen der modernen Pädagogik, rät Eltern zwar, ihrem Nachwuchs in der Erziehung Grenzen zu setzen – jedoch auch sich selbst. Mütter und Väter sollten Kinder nicht als Klon ihrer selbst zu formen versuchen, sondern ihnen zu ermöglichen, später „selbstständig“ ihr eigenes Leben zu führen. „Normen und Werte“, schreibt Stangl in seinen Arbeitsblättern zur Pädagogik, müssten dem Kind angeboten werden, damit es „diese übernehmen, verarbeiten und verändern kann“. Die Grenzen der noch in den 1970er Jahren gültigen autoritären Erziehung – sie gelten heute nicht mehr.
Das bislang Gültige zu begraben und durch Neues zu ersetzen – das ist die Antriebskraft menschlichen Daseins. Grips und Kreativität haben über die Jahrhunderttausende zu Innovationen geführt, die scheinbar unzerstörbare Ketten sprengten.
Es beginnt vor 1,9 Millionen Jahren in Ostafrika. Frühmenschen von der Art des Homo Habilis sehen, wie ein Blitz einen Baum in Brand setzt. Sie fürchten sich. Aber einige von ihnen greifen sich beherzt einen flammenden Ast, tragen das Feuer fort und entzünden weitere Holzstücke. Es ist eine mutige Tat – mit gewaltigen Konsequenzen: Mit dem Feuer kann das Fleisch erlegter Tiere gebraten oder geräuchert werden. Bakterien, Parasiten und Viren wird so der Garaus gemacht. Die frühen Menschen können sich gesünder ernähren, mehr Nachkommen großziehen, sich immer weiter in Savanne und Urwald ausbreiten. Ihre Nachfahren überschreiten schließlich diese Grenzen, wandern hinauf in den Nahen Osten und später sogar in das kalte Europa, nach Asien, Amerika und schließlich sogar Australien. Die Zähmung des Feuers durch seine Vorfahren hat dem Homo Sapiens die Welt eröffnet. Vor rund 5.000 Jahren fertigt ein Tüftler in Mesopotamien das erste Rad. Seine Erfindung lässt die Menschen über die Grenzen ihrer körperlichen Kraft hinauswachsen. Flaschenzüge und Kräne können nun konstruiert werden, um große Lasten zu heben. Tempel werden zu Ehren der Götter errichtet, Städte aus mehrstöckigen Häusern wachsen heran. Und: Der Transport schwerer Waren über weite Strecken wird möglich – der Grundstein für den globalen Handel in der damals bekannten Welt ist gelegt.
Schon 1.000 Jahre vor Christi Geburt zieht sich ein Spinnennetz aus Karrenwegen über den Nahen Osten und Europa. Im dunklen Mittelalter sind es die Händler, die mit der Seide und den Gewürzen aus fernen Ländern auf ihren Wagen auch die Mathematik und medizinisches Wissen aus den islamischen Ländern nach Europa bringen. Augsburg, im Schnittpunkt der alten römischen Fernstraßen, der Via Claudia Augusta, der Via Julia und der Via Imperii gelegen, zählt zu jenen Städten, die besonders stark vom wachsenden Waren- und Ideenaustausch profitieren. Die Patrizier, mächtige Handelsfamilien, gewinnen die Macht in der Stadt und führen sie in die 1276 von König Rudolf I. gewährte Reichsunmittelbarkeit. An den Augsburger Grenzen endet nun die Macht vor Fürsten und Bischöfen.
Inzwischen haben die Menschen auch die Barriere der irdischen Gravitation überwunden, sind auf dem Mond gelandet, haben bemannte Raumstationen im Orbit etabliert und Sonden tief das All geschickt. Die nächsten großen Ziele: Menschen sollen auf den Mars gebracht und Bodenschätze auf dem Mond gewonnen werden. Gearbeitet wird daran auch in Augsburg, wo das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt besonders leichte und zugleich extrem stabile Kunststoffe für die Fertigung kommender Flugzeuge und Raumfähren forscht. Mehr als 2.000 Jahre nach seiner Gründung geht es in Augusta Vindelicorum einmal mehr darum, Grenzen zu verschieben...